Wallrabenstein, Wulf

Vom “altmodischen” Umgang mit Büchern

Lesen, Lesen in der Schule, Lesen für die Schule

Thema: Aufsatz
erschienen in: Musik in der Grundschule 2001/04 , Seite 06

Der große Psychoanalytiker und Märchenfreund Bruno Bettelheim hat es auf den Punkt gebracht: “Um mit Eifer lesen zu können, muss ein Kind leidenschaftlich davon überzeugt sein, dass das Lesen ihm eine Welt wunderbarer Erfahrungen erschließen könne.” Dem stimmen wir alle zu, vor allem diejenigen älteren Leserinnen und Leser, die diese Erfahrung aus ihrer Kindheit lebenslang bewahrten, indem sie auch heute noch lesen. Aber was ist mit der neuen Mediengeneration, die die schnellen Schnittmuster der Serien, Videoclips und Filme schon so internalisiert hat, dass sie ungeduldig wird, wenn nicht endlich (nach wenigen Sekunden) etwas passiert?

Beschleunigung wofür?

Beschleunigung statt Verlangsamung kennzeichnet den Zeitgeist der Erwachsenenwelt, in der die Kinder sich nicht mehr als Kinder, sondern als erwachsene Medienrezipienten bewegen. Entsprechend flüchtig und leer bleiben dann auch viele “wunderbare Erfahrungen” aus den Beschleunigungsmedien. Ein Blick auf neuere Erkenntnisse zur Mediatisierung und Sprachentwicklung in der Kindheit (z. B. Sazagun und Füssenich) zeigen folgende Ambivalenz auf: auf der einen Seite wächst die (mediale) Verfügbarkeit der Kinder über die Welt, auf der anderen Seite findet eine selbst gesteuerte, aktivierende Sprachförderung durch Individualisierungs- und Isolationstendenzen weniger tief greifend statt. Wenn aber Denken als verinnerlichte Sprache von aktiven Operationen – also von Aneignungen, Entdeckungen und Eroberungen – in der Alltagskommunikation von Kindern lebt, dann ist kritisch nach der Praxis des Umgangs der Kinder mit allen Medien zu fragen.

Der verlangsamte Umgang

Dem Buch kommt dabei eine besondere Rolle zu, denn trotz oder gerade wegen der Konkurrenz der bewegten Bilder kommen Kinder immer wieder auf das Buch zurück – umso mehr, je überzeugender Eltern, Lehrerinnen und Lehrer sie in eine Lesekultur einführen. Die Gründe für die eigentümliche Faszination des Buchs für Kinder sind heute erforscht, bekannt und nachgewiesen. Es sind vor allem zwei Gründe: die sogenannte “Leerstellenfunktion” und die “Verlangsamungsdidaktik” der Bücher. Beim Prozess des Lesens vollzieht das Gehirn vielfältige ganzheitliche Operationen, die zum Aufbau von Bedeutungen und – besonders in der rechten Gehirnhälfte – von Bildern führt. Jedes Buch arbeitet dabei aber auch mit “Leerstellen”, denn es beschreibt nicht alles. Die innere Vorstellungskraft der Kinder wird angeregt, diese Leerstellen mit eigenen Träumen, Bildern und Gedanken zu füllen. Für die Schule bedeutet das einen Umgang mit solchen Büchern anzuregen, die ein Fenster zur inneren und äußeren Welt der Kinder öffnen.

Die Verlangsamungsdidaktik des Buchs ist strukturell bedingt: es muss die Szenen nacheinander aufbauen, es kann nicht wie das Bild alles gleichzeitig zeigen. Dadurch ist es ein kindgerechtes Medium: das Kind folgt dem eigenen Rhythmus des Verarbeitens. Diesen Lernprozess hat der spanische Dichter und Dramatiker Garcia Lorca auf wundervolle Weise (auch für unser eigenes Lernen) ausgedrückt: “Eile nicht, gehe langsam, du musst ja auf dich zugehen. Eile nicht, gehe langsam, denn das Kind deines Ichs, das ewig Neugeborene, kann dir sonst nicht folgen.” Auf ihre Weise hat das Katharina aus der dritten Klasse als ihre Erfahrung im Umgang mit Büchern aufgeschrieben.

Schulbücher oder Bücher in der Schule?

Lesen macht Spaß, der Umgang mit Büchern kann sinnvoll sein. Das ist eine Erfahrung, die Kinder häufig schon in vielen “Lesesituationen” vor dem Schulanfang gewonnen haben. Sie haben – unterschiedlich geprägt – erfahren, was der Umgang mit Büchern und Texten für die Menschen ihrer Umwelt und für sie selbst bedeuten kann. Bücher und Texte sind im Kinderalltag in Handlungen eingebunden, die das Kind in den Aktionsräumen Familie, Schule, Beruf, Öffentlichkeit und Freizeit erlebt. Das Wissen über diese Handlungen resultiert aus äußerst unterschiedlichen Erfahrungen und prägt nachhaltig die Einstellungen zu Büchern. Es ist der soziokulturelle Aspekt des Umgangs mit Büchern. So haben Kinder beispielsweise erfahren, dass ihr eigener, noch lustvoller Umgang mit Gedrucktem sich bei den Älteren zu einem zweckgebundenen, anstrengenden Lesen und Lernen mit Büchern verwandeln kann:

– Man muss mit Büchern ernsthaft arbeiten, damit sie einem nützen.

– Erwachsene brauchen für ganz verschiedene Stimmungen und Situationen verschiedene Texte.

– Bücher werden benutzt, um schöne Geschenke zu machen, Kinder ruhig zu halten, sie zum Sprechen zu bringen usw.

Viele Kinder haben aber auch erfahren, wie schön es beispielsweise ist,

– auf dem Bauch liegend ein Buch durchzublättern, die Druckerschwärze zu riechen, mit den Texten – auch als Bilder – in fremde Welten vorzudringen,

– Bücher mitzunehmen und andere an seiner eigenen Aufregung teilnehmen zu lassen, das Lieblingsbuch unter das Kopfkissen zu legen, mit den Figuren zu leiden, zu weinen und zu lachen.

Solche erprobten kommunikativen Handlungen stehen zu einem großen Teil im Widerspruch zu den ritualisierten Handlungssituationen in der Schule. Wenn die Erstklässler die “Buchschule” betreten, tritt häufig mit den ersten Büchern das Lehren vor das Lernen. Die Lehrabsicht, der Lehrplan, der Stundenplan, der systematisch-logische Aufbau eines Lehrgangs in Textsequenzen und die Arbeit mit den Schulbüchern bestimmen nun den engen Weg, auf dem sich ein Umgang mit Büchern entwickeln soll.

Umgang mit Büchern in der Schule

Schulbücher …

Wir bieten den Kindern Texte an. Wir bieten den Kindern Fragen zu den Texten an. Wir bieten den Kindern Raster für die Fragen zu den Texten an. Wir wundern uns, wenn die Kinder die Schultexte nicht mögen. Wir geben den Kindern ein Lesebuch. Wir geben den Kindern die Seitenzahl für den Lesetext aus dem Lesebuch. Wir geben den Kindern mit der Seitenzahl für den Lesetext aus dem Lesebuch unseren Fahrplan für die literarische Kompetenz. Wir freuen uns, wenn die Züge unserer Leseschule von unserem Bahnhof abfahren. Wir wundern uns, wenn die Kinder in dem Lesebuch nicht mehr lesen mögen.

… oder Bücher in der Schule

Kinder kuscheln sich mit einem Buch in unsere Leseecke. Kinder versenken sich in ein Buch. Kinder lesen. Bisweilen bewegen sich ihre Lippen. Sie liegen auf dem Bauch und wippen mit den Füßen. Sie sind unterwegs. Kinder bringen ihre Texte in die Schule mit und erzählen. Sie sprechen über die Figuren und Handlungen. Sie lassen die Bilder in ihren Köpfen wandern. Sie spielen die Texte in der Klasse vor. Sie sind bereit für andere Geschichten und schreiben Geschichten neu. Lehrer erfahren mit diesen Kindern Texte in der Schule.

Diese provozierende Gegenüberstellung lenkt den Blick auf elementare Bedürfnisse der Kinder beim Umgang mit Büchern. Warum kann die Schule nicht einfach die kindlichen Strategien des Umgangs mit Büchern fortsetzen und vor allem zu folgenden Erfahrungen und Grundbedürfnissen weiterführende Lernsituationen entwickeln?

– Bücher können zwischen mir und anderen Menschen vermitteln und Gespräche in Gang setzen.

– Bücher können Freunde sein, können unterhalten, trösten, traurig machen und vergessen lassen.

– Bücher bieten mir neue Welten und andere Rollen an, mit denen ich mich identifizieren kann, von denen ich mich aber auch distanzieren kann.

– Bücher erlauben mir, eigene Probleme und Schwierigkeiten selbstständig zu betrachten und Lösungen durchzuspielen.

– Bücher können mich in Fragen, Erfahrungen und Deutungen hineinziehen, die mich beunruhigen.

– Bücher geben mir Auskünfte, die mir weiterhelfen.

Lehrerinnen und Lehrer sollten also Lernprozesse in Gang setzen, bei denen die Kinder so handeln, dass ihr Umgang mit Büchern

– soziale Zuwendung, Anerkennung und Erwiderung auslöst,

– sie befähigt, für sich und andere sinnvolle Textstellen und Bücher auszuwählen, und

– ihre Kommunikationsfähigkeit über ihre Bucherfahrungen fördert.

Ein solches Lernen, das als langfristiger, komplexer Vorgang wohl kaum abfragbare Ergebnisse von Lernanstrengungen der Kinder aufweisen kann, ist vor allem von der Form der Vermittlung sowie von den Handlungsmöglichkeiten der Schüler abhängig:

– Was habe ich als Kind mit einem Buch zu tun?

– Was ist also bei dem mitgebrachten Buch für mich wichtig?

– Was verlangt das Buch von mir?

Damit erreichen wir eine notwendige Trennung der Lehrziele des Lehrers von den Arbeitszielen der Schüler, mit denen wir die Absichten, Erfahrungen und Grundbedürfnisse der Schüler meinen.

Mit dieser Argumentation treffen Lehrer die entscheidende Stelle des intendierten Lernprozesses: Die unterrichtliche Vermittlung zwischen Subjekt und Buch (die Erfahrungen des Subjekts mit einem Buch), die in dem Maße gelingt, wie der Schüler sich überhaupt auf Angebote einlässt. Je enger für den Schüler ein überschaubarer, handlungsorientierter Zusammenhang zwischen den Lehrzielen und seinen Arbeitszielen hergestellt wird, desto mehr Möglichkeiten gemeinsamen unterrichtlichen Handelns werden eröffnet.

“Lies doch endlich!” – Zehn Regeln gegen Bildungsdruck beim Lesen

Es ist deutlich geworden: ein Imperativ kann den Umgang mit Büchern weder in der Schule noch zu Hause herbeiführen; vielmehr ist es die Gelassenheit, der Witz und die Intelligenz in den folgenden zehn Regeln für die unantastbaren Rechte des Kindes als Leser, die uns weiterführen. Mit ihnen kämpft der französische Autor Daniel Pennanc gegen den von Eltern oder Lehrern verübten Bildungsdruck beim Umgang mit Büchern an:

1. Das Recht, nicht zu lesen

2. Das Recht, Seiten zu überspringen

3. Das Recht, ein Buch nicht zu Ende zu lesen

4. Das Recht, noch einmal zu lesen

5. Das Recht, irgendwas zu lesen

6. Das Recht auf Bovarysmus, d. h. den Roman als Leben zu sehen

7. Das Recht, überall zu lesen

8. Das Recht herumzuschmökern

9. Das Recht, laut zu lesen

10. Das Recht zu schweigen