Ansohn, Meinhard
Sonne, Mond und Sterne – haben wir die gerne?
Notizen zum Verhältnis von Menschen, Sternen und Musik
Auf vier Lieder über die Sonne kommen drei über den Mond und zwei über die Sterne, sagt meine Datenbank. Das entspricht den Antworten von Schülern auf die Frage, was sie am liebsten mögen.1 Die Mehrheit entscheidet sich für die Sonne: schön, hell, warm, Leben spendend. Weniger Kinder (mehr Mädchen) bevorzugen den Mond: veränderlich, ruhig, gut anzusehen, nachthell. Eine Minderheit, überwiegend Jungen, bevorzugt die Sterne: spannend, herausfordernd, weit weg.
Auch unsere Sprache scheint diese Nähegrade zu den Gestirnen zu enthalten. Das Wort Sonne entstammt dem indogermanischen “sauel”2 und bedeutet einfach Sonne. Der Ursprung des Worts Mond verliert sich in einer Gruppe von Wörtern, die über “menot” (= Mondwechsel) auf “med” (= Mal, wie “das eine Mal”) zurückgehen und soviel wie abmessen, abschreiten, wandern am Himmel bedeuten. Sterne kommen von der Wurzel “ster”, gleichbedeutend mit “das am Himmel Ausgestreute”.
Von der Sonne zum Mond und bis zu den Sternen wird die konkrete Erfahrung immer undeutlicher. Die Wortbedeutungen sind daher immer weniger am Gegenstand als an unserer Wahrnehmung orientiert. Das zeigen auch die Liedinhalte zu diesem Thema. Die Sonne hat dort meistens mit Wärme und Licht zu tun, dann erst mit dem Lebensgefühl, das daraus folgt. “Die güldene Sonne bringt Leben und Wonne” ist das deutlichste Beispiel dafür und zeigt gleichzeitig das in vielen Liedern religiös empfundene Dankgefühl gegenüber der Leben spendenden Kraft. Der Mond wird zwar gelegentlich in seiner realen Bahn beschrieben, bekommt aber sonst eher Geschichten zugedichtet (neben dem “Mann im Mond” auch jede Menge Liebesgeflüster) und wird oft als Metapher für das Veränderliche, auch das Launische, benutzt.
Sonne und Mond gelten in vielen Kulturen als Verkörperung eines Prinzips von Männlichkeit und Weiblichkeit:3 die “männliche” Energie des Schaffens und Zerstörens und die “weibliche” des Zyklus, der Polaritäten und des schwingenden Ausgleichs. In den meisten Sprachen ist die Sonne männlich und der Mond weiblich – seltsamerweise nicht in der deutschen Sprache. Die Sterne werden fast gar nicht als Himmelskörper besungen: Ein Stern ist fast immer etwas, das nicht da ist. Stern der Sehnsucht; Stern, der beschützt; Stern, der in uns für etwas leuchtet usw. Nur in der Spaßkultur der Neuen Deutschen Welle gab es Reisen in den konkreten Weltraum (Major Tom, Codo oder Fred vom Jupiter, der “kam vom andern Stern und landete nicht gern”).
Der Weltraum – unendliche Weiten
Man könnte meinen, dass der Weltraum, so nah er uns durch Hubble-Teleskop und Voyager-Sonden gerückt ist, eine große Freizeitfolie für Kinder- und Jugendaktivitäten abgeben müsste, aber dem ist nicht so. Im Fernsehen sind die verschiedenen Star-Trek-Generationen konkurrenzlose, moderne Märchen mit Fantasiegalaxien, ähnlich den Perry-Rhodan-Abenteuern der 60er Jahre. Im Kino besetzen Star-Wars-Filme das Weltraumsegment ohne reale Weltraumbedingungen zu thematisieren, wie schon “Peterchens Mondfahrt” oder “Der kleine Prinz”. Aber was heißt schon real? Es gibt keine reale Vorstellung davon, dass im Kosmos zehn Milliarden Galaxien existieren (geschätzt), von denen die Milchstraße nur eine ist, die selbst schon etwa drei Milliarden Sonnen (= Sterne) enthält und viele weitere “Himmelskörper”. Es ist auch schwer vorstellbar, dass der größte bekannte Stern, Beteigeuze im Orion, einen Durchmesser von 700 Millionen Kilometern hat (was dem fünffachen Abstand von Sonne und Erde entspricht) und dass der von uns aus nächste Stern, Proxima Centauri, rund vier Lichtjahre (= ca. 40 Billionen Kilometer oder eine Milliarde Erdumrundungen) von uns entfernt ist.4
Gerade die Irrealität des Erforschbaren, aber nicht Erfahrbaren, hat einem astrologischen Umgang mit den Sternen Vorschub geleistet. Viele Menschen wissen schon als Kind, dass sie “Steinbock” sind und werden doch das Sternbild Steinbock ihr Leben lang nicht am Himmel erkennen.
Ein anderer Versuch, die unendlichen Weiten des Weltraums fühlbar zu machen, ist das Herunterrechnen von unfassbaren Zahlen bis zu hörbaren Frequenzen. Der fröhliche Saturnfan kann sich z. B. eine Stimmgabel mit 147,85 Hz kaufen und wird mit diesem Ton (knappes e) vielleicht noch fröhlicher.5
Mag vielen Menschen dieser “Forschungszweig” skurril anmuten, so zeigt sich dahinter ein grundlegendes Bedürfnis, den gefühlten Inhalten der Dinge im Universum und ihren möglichen Analogien zu unserer eigenen Existenz näher zu kommen und in Symbole zu fassen, die auch in den Künsten Ausdruck finden.
Wir haben uns schließlich auch damit abgefunden, dass Sterne gezackt sind. Kaum ein gemalter Stern ist rund wie in der Realität. Sternförmige Figuren dienen uns von alters her für Auszeichnungen. In unserer Sprache sprechen wir ganz offiziell von Sonnenauf- und -untergängen oder Voll- und Halbmonden, weil uns unsere beschränkte räumliche Erfahrung näher ist als die Wissenschaft.
Sonnen-, Mond- und Sternmusik
In der Musik spiegelt sich die ganze Welt, allerdings gefiltert durch Wahrnehmungen und Empfindungen wider. Es kann interessant sein, verschiedene Musikgenres von Kindern den Himmelskörpern zuordnen zu lassen (ohne Beharrung auf richtig oder falsch!).6
Wir werden feststellen, dass Samba, Salsa, Reggae, Calypso, Hora und Sirtaki wie auch viele afrikanische Stile überwiegend als Sonnenmusiken empfunden werden (auch in Barock und Klassik finden wir viel Sonnenmusik). Der Mond ist in Cool Jazz, Bossa Nova, Popballaden und Blues präsent wie auch in der gesamten Hochromantik. Zu den Sternen gelangen wir über Filmmusiken (z. B. Hitchcock), Messiaens Orgelwerke, Techno, serielle Klaviermusik oder Kompositionen von Arvo Pärt.
Solche Einordnungen erscheinen zunächst willkürlich. Bei mehreren Versuchen kristallisieren sich aber Gemeinsamkeiten heraus: Die “heißen” Rhythmen werden fast immer der Sonne zugeordnet, die verhaltenen, eher lyrischen dem Mond und die abstrakten oder auch formalen Musiken den Sternen.
Spannend ist auch die Musikepoche, in der die Komponisten über die Sterne hinaus gehen wollten: Spät- und nachromantische Programmmusiker wie z. B. Gustav Holst, Alexandr Skrjabin, Karol Szymanowski und Charles Ives schrieben Kompositionen, die das Universum mit der (noch) harmonisch gebundenen Musik einbeziehen wollten, während andere Komponisten das harmonisch-musikalische Universum längst verlassen hatten.
Wie ein Startschuss in diese jenseitige Welt scheint Beethoven gewirkt zu haben, der in den gut 60 000 Noten seiner 9. Sinfonie jenen Stern suchte, der “über Sternen wohnen” soll (am Himmel sind gerade mal 6000 Sterne mit bloßem Auge sichtbar! ).7 Kinder, die sich in Bezug auf Gestirne eingehört haben, werden jene Stelle aus dem 4. Satz mit den ungeheuren Chorhöhen gleich den Sternen zuschlagen können. Ist es da ein Zufall, dass eine andere Stelle aus diesem Satz inzwischen zur Europa-Hymne erklärt worden ist, wo doch die europäische Flagge außer der Farbe blau nur Sterne enthält? Die schönste Aufforderung, nicht Fassbares und Unverstandenes wenigstens zu akzeptieren, wird ausgerechnet in der “naturwissenschaftlichsten” Mondliedstrophe formuliert, die die vertonte Dichtkunst zu bieten hat:
Seht Ihr den Mond dort stehen?
Er ist nur halb zu sehen
Und ist doch rund und schön.
So sind wohl manche Sachen,
Die wir getrost belachen,
Weil unsre Augen sie nicht sehn.
(Matthias Claudius: “Der Mond ist aufgegangen”, Vers 3)
Anmerkungen
^1 Eine private Umfrage 1999/2000 unter Berliner Viertklässlern ohne Anspruch auf Repräsentativität.
^2 “Das Herkunftswörterbuch” (2. neubearb. Aufl. 1989).
^3 vgl. dazu Bauer u. a. (Hg.): “Lexikon der Symbole”, Wiesbaden 1980.
^4 In jedem “Guinness-Buch der Rekorde” finden sich einige weitere Zahlen zum Staunen und neugierig Machen.
^5 Cousto, Hans: “Die Oktave”, Berlin 1987. Hier wird aus den Entdeckungen und Berechnungen Johannes Keplers in seiner “Weltharmonik” (1619) ein späterer Gebrauchswert gezaubert. Joachim Ernst Berendt hat diese Gedanken in seinem Buch “Das dritte Ohr – Vom Hören der Welt” (Reinbek 1985) etwas weiter verbreitet. Er war der Ansicht, dass wir in naher Zukunft noch einige kosmische Überraschungen erleben werden.
^6 vgl. Ansohn, Meinhard: “Tiere, Menschen und Musik”, in: “Musik in der Grundschule” 1/1999, S. 6 ff.
^7 aus “Ode an die Freude” von Friedrich Schiller.