Schlegel, Clemes Maria

Europäische Lehrpläne

Musik im Primarbereich der EU-Mitgliedstaaten

Thema: Aufsatz
erschienen in: Musik in der Grundschule 2000/02 , Seite 06

Auf dem Weg zu einem gemeinsamen Europa können Lehrpläne zu Wegweisern werden: Sie bilden eine Gesprächsbasis für die Annäherung von Bildungs- und damit auch Zukunftsvorstellungen.

Natürlich können Lehrpläne auch zur drückenden Last werden, besonders wenn sie als Katalog angesehen werden, der sklavisch abzuhaken ist. Neuere europäische Lehrpläne sind jedoch fast durchgängig als Rahmenrichtlinien formuliert, die der didaktischen Entscheidungsfreiheit des Lehrers ausreichenden Spielraum zugestehen.

Welches Signal würde wohl ausgesendet, wenn man im Fach Musik – wie es mancherorts gefordert wurde – auf Lehrpläne verzichten wollte? Gerade unser Fach, das oft als „Ausgleich“ und „Nebenfach“ belächelt wird, stünde sofort auf der „Abschussliste“, wenn es nicht konkret formulieren würde, worin sein unverwechselbarer und auch unersetzlicher Beitrag zum Bildungsauftrag der Schule liegt.

Die nächste Budgetkürzung kommt bestimmt, und bis die Ergebnisse der jüngsten Studien über den Beitrag der Musik zur Persönlichkeitsentwicklung (H. G. Bastian (1) etwa oder E. W. Weber (2)) ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit und damit auch der Bildungspolitiker gedrungen sind, fließt wohl noch viel Wasser auf die Mühlen der Rationalisierer.

Zur Situation des Musikunterrichts in Europa

In allen fünfzehn EU-Staaten gibt es ab der ersten Klasse der Pflichtschule Musikunterricht, und er wird auch in den meisten Fällen für die gesamte Dauer der Primarschule (die zwischen vier und zehn Jahren liegt – im europäischen Schnitt sechs Jahre) erteilt (vgl. dazu Abb. 2). In einigen Ländern (z. B. Dänemark) ist Musik ab der siebten Jahrgangsstufe Wahlfach. Musik ist zwar überall ein eigenständiges Fach, es ist aber teilweise eingebettet in künstlerisch-kreative Fächergruppen (zusammen mit bildender Kunst, Tanz, Theater, Literatur, Handarbeit und Sport). Stundentafeln mit exakten Angaben darüber, wie viele Stunden Musik pro Woche unterrichtet werden sollen, sind nur in einigen Lehrplänen enthalten (meist eine Stunde pro Woche, z. B. Bayern: dritte und vierte Klasse, Dänemark: zweite bis vierte Klasse jeweils zwei Stunden).

In der Regel wird für musische Fächergruppen ein Stundenrahmen gegeben, der – manchmal auch über mehrere Unterrichtsjahre – von den einzelnen Schulen autonom aufgeteilt werden kann. Es ist jedoch skeptisch zu betrachten, ob solche schulautonomen Bestimmungen positiv für den Musikunterricht ausgeschöpft werden.

Die europäischen Musiklehrpläne unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht voneinander. Besonders fällt der enorme Unterschied im Grad ihrer Konkretheit und ihres Umfangs auf: So umfasst der irische Musiklehrplan rund 50 Seiten (für vier Jahre Grundschule), der niederländische gerade einmal eine knappe Seite (für acht Jahre). Die Tabelle in Abbildung 1 zeigt den Umfang der einzelnen Lehrpläne (in Wörtern).

Die Lehrpläne in den Niederlanden, Schweden oder Finnland sind Rahmenrichtlinien. Sie gewähren zwar große Freiheit, verlangen aber viel Eigenarbeit des Lehrers bei der Erstellung einer Jahresplanung. Voraussetzung für eine sinnvolle Arbeit mit solchen Lehrplänen ist eine gute Musiklehrerausbildung, ergänzt durch praktische Erfahrung. Der irische, bayerische (der hier stellvertretend für die deutschen Pläne steht) oder griechische Lehrplan zeichnen sich durch große Konkretheit aus: Sie bieten zahlreiche Beispiele und Vorschläge zur Unterrichtsgestaltung und berücksichtigen somit die Tatsache, dass viele Grundschullehrer nicht oder nicht ausreichend in Musik ausgebildet sind.

In einigen deutschen Lehrplänen (Bayern, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Baden-Württemberg, Sachsen) und in Belgien gibt es konkrete und z. T. verbindliche Liederlisten. Eckhard Nolte bezeichnet solche Liedkataloge als „formales Relikt des traditionellen Stoffplanes“ (3).

Lernbereiche des Musikunterrichts

Die Lernbereiche des Musikunterrichts orientieren sich in den meisten europäischen Lehrplänen an den musikbezogenen Verhaltensweisen, wie sie Dankmar Venus (4) formuliert hat: Produktion (Komponieren, Improvisieren), Reproduktion (Musik machen), Rezeption (Musik hören), Transposition (Umformen von Musik in Bewegung, Szene, Sprache, Bild), und Reflexion (Musik verstehen, Nachdenken über Musik, Musiktheorie). In konkreter Formulierung setzen sie aber unterschiedliche Schwerpunkte. Zur Illustration seien hier stellvertretend einige typische Klassifizierungen angeführt:

Bayern:

1. Sprechen und Singen

2. Spielen auf einfachen Instrumenten

3. Musikhören und -aufschreiben

4. Sich-Bewegen und Tanzen

Dänemark:

1. Singen

2. Spielen von Instrumenten

3. Bewegung

4. Musiktheorie

Frankreich:

1. Vokalunterricht

2. Körperliche und instrumentale Aktivitäten

3. Höraufgaben

Irland:

1. Hören und Reagieren

2. Aufführen

3. Komponieren

Portugal:

1. Stimme

2. Körper

3. Instrumente

4. Gehörentwicklung

5. Musikalische Ausdrucksfähigkeit und Kreativität

6. Tondarstellung

Produktion:

Im bayerischen Lehrplan gibt es – wie im dänischen und französischen auch – keinen eigenen Lernbereich für Produktion, also für das Erfinden eigener Musik oder musikalischer Aktivitäten. Stärker kreativ orientiert sind der irische und der portugiesische Lehrplan.

Reproduktion:

Reproduktion wird bei allen Plänen außer dem irischen – der Schulpraxis entsprechend – in Singen und Musizieren aufgeteilt.

Rezeption:

Rezeption ist in allen Lehrplänen außer dem dänischen ein eigener Lernbereich.

Transposition:

Transposition ist in allen genannten Lehrplänen außer dem irischen auf Bewegung reduziert. Der irische lässt mit der Formulierung „Auf Musik reagieren“ ein breiteres Spektrum von Aktivitäten zu.

Reflexion:

Die Reflexion über Musik findet nur teilweise Eingang in die Lernbereiche: In Bayern als „Musik aufschreiben“, in Dänemark als „Musiktheorie“, in Portugal als „Tondarstellung“. Reflexion von Musik meint aber mehr als das Erlernen von Musiktheorie: Über Musik sprechen, sie interpretieren, etwas über sie erfahren sind Lernvorgänge, die oft auf verschiedene Lernbereiche verteilt sind. In Irland sind sie in „reagieren“ mit enthalten. Frankreich führt diesen Lernbereich nicht eigens an.

Es zeigt sich also, dass die sehr weit gefasste irische Systematik als einzige alle denkbaren Aktivitäten berücksichtigt.

Lernzielformulierungen aus verschiedenen Ländern und Lernbereichen

Griechenland, 3.-5. Klasse: Musik verstehen

Die Kinder singen einen Ton und halten ihn so lange, wie es ihnen die Atmung erlaubt. Sie singen im Anschluss die selbe Note für die Zeitdauer, die ein Taschentuch braucht, um erst aus geringer, später aus größerer Höhe zu fallen. Anhand verschiedener Spiele werden sich die Schüler der unterschiedlichen Tonlängen bewusst, die sie zunächst durch eine horizontale Linie darstellen.

Österreich, 1.-2. Klasse: Musik erfinden

Klangmöglichkeiten von Körperinstrumenten, von selbstgebauten Instrumenten und Orff-Instrumenten erforschen und erleben; einfache Handlungsabläufe klanglich darstellen, auf Tonband aufzeichnen, abhören und darüber sprechen (z. B. am Morgen, in der Pause, Kinder spielen Ball).

Italien, 1.-5. Klasse: Musik machen mit Instrumenten

Erfahren und Analysieren der verschiedenen Töne und Klangfarben, die durch das Schlagen von Gegenständen erzeugt werden können (Gegenstände aus Metall, Holz, Stein, hohle und volle Gegenstände); Analysieren anderer Möglichkeiten, um Töne zu erzeugen (Reiben, Schütteln von Gegenständen); das Erforschen wird handelnd durchgeführt, auch indem mit einfachen Materialien kleine Instrumente gebaut werden.

Spanien, 1.-6. Klasse: Musik umsetzen

Allein oder in der Gruppe einfache künstlerische Produktionen herstellen, in denen die verschiedenen künstlerischen und expressiven Sprachen (Körpersprache, Sprache der bildenden Kunst, Zeichensprache, Sprache der Musik) vereint sind.

Irland, 3.-4. Klasse: Musik hören

Musik verschiedener Stile und Genres anhören und beschreiben, einschließlich bekannter Ausschnitte, und dabei, wo es angemessen ist, ihre Funktion und den historischen Kontext berücksichtigen.

Musik, die eine Geschichte erzählt: Der Zauberlehrling von Dukás

Beschreibende Musik: Die Planeten von Holst, „Die Wiener Spieluhr“ aus Háry János Suite von Z. Kodaly

Irische Musik: Aufnahmen von the Chieftains, Altan, Na Casaidigh, Mary Bergin

Populäre Musik: „A Spaceman Came Travelling“ in der Version von Chris de Burgh, „Lucy in the Sky with Diamonds“ von Lennon und McCartney

Filmmusik: Thema aus Superman von John Williams

Geistliche Musik: „Halleluja“, Chor aus Messias von G. F. Händel

Fazit

Wie man an diesen wenigen Beispielen sehen kann, müssen Lehrpläne keineswegs trockene amtliche Texte sein, sie können Anregung und Hilfe für die Unterrichtspraxis geben. Darüber hinaus gibt es zu fast allen Lehrplänen Handreichungen, die zusätzlich noch viele Beispiele und Planungshilfen geben.

In der Regel sind Lehrpläne heute besser als ihr Ruf. Im Zuge der europäischen Einigung sollten Bildungspolitiker aus allen Ländern bereit sein, voneinander zu lernen, damit Lehrpläne immer mehr zu einem lebendigen Musikunterricht beitragen können.

Anmerkungen

1 Bastian, H. G. (Hg.): Musik(erziehung) und ihre Wirkung. Eine Langzeitstudie an Berliner Grundschulen, Mainz 2000 (bei Drucklegung dieses Artikels noch nicht erschienen).

2 Weber, E. W., u. a.: Musik macht Schule, Essen 1993.

3 Nolte, E.: Die neuen Curricula, Lehrpläne und Richtlinien für den Musikunterricht an den allgemeinbildenden Schulen in der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin. Teil II: Sekundarstufe I, Mainz 1991, S. 26.

4 Venus, D.: Unterweisung im Musikhören. Verbesserte Neuausgabe, Wilhelmshaven 1984, S. 21 f.

Der Verfasser vergleicht derzeit an der Universität Augsburg die Lehrpläne für Musik im Primarschulbereich aller 15 EU-Staaten. Die vollständigen Ergebnisse erscheinen 2001